Sprachentwicklung und meine große Verunsicherung

Und wieder habe ich mit der Logopädin diskutiert und dabei diesmal viel geweint. Ich war ganz aufgelöst. Später glaubte ich zu verstehen, warum eigentlich. Sie ist davon überzeugt, dass der Junge eine Eins-zu-Eins-Sprachtherapie braucht. Sie meint, dass er viel mehr redet seitdem sie mit ihm 2x pro Woche 45 Minuten arbeitet. Sie sei mit ihm auf dem richtigen Weg. Von der Arbeit in der Kita-Gruppe mit anderen Kindern zusammen hält sie nicht viel. Ich wollte nochmal mit ihr darüber sprechen.

Ich hatte sie auch um einen Gesprächstermin gebeten, weil Anatol in den letzten Monaten oft Türme der anderen kaputt macht, das Sandkastenspielzeug weg nimmt, auf die Bilder der Anderen krakelt oder eben haut. Er ist nicht extrem aggressiv oder auffällig, aber eben schon oft gemein zu den anderen Kindern. Ich bin unsicher, wie ich mit diesem Verhalten umgehen soll. Außer ein deutliches verbales und gestisches Stopp schlug sie mir im Gespräch vor, noch ein rotes Stopp-Schild zu malen, das man ihm in solchen Situationen vor die Nase hält, um ihm seine Grenzübertretung nochmal visuell sehr deutlich zu machen. Auch schlug sie vor, Kinderbücher zu lesen, die Wut thematisieren oder mit Kuscheltieren kleine Geschichten zu spielen, in denen jemand rempelt oder haut, um damit visuell besonders deutlich zu machen, dass man das nicht tut.

Ich sagte ihr, dass Anatol sehr gut weiß, was gut und böse ist, dass er dies erkennen kann und dann auch selbst mit Ablehnung bzw. Schimpfen reagiert, wenn Andere Grenzen überschreiten. Ich meine, es geht eigentlich um etwas ganz anderes. Und zwar darum, dass er häufiger als andere Kinder nicht ins gemeinsame Spiel einbezogen wird, weil er motorisch (z.B. beim Fußball), kognitiv (z.B. bei Rollenspielen) und sprachlich (z.B. im Morgenkreis) nicht mit gleichaltrigen Kindern mithalten kann. Sein Verhalten ist somit der ständige Versuch einer Kontaktaufnahme mit den anderen Kindern. Ich vermute sogar, dass bessere sprachliche Ausdrucksfähigkeit diese Situation für ihn als Jungen mit Trisomie 21 kaum ändern würde. Deshalb, so schätze ich es ein, muss er zum einen lernen zu akzeptieren wenn andere nicht mit ihm spielen wollen. (Diese Erfahrung wird er ja noch sehr häufig im Leben machen.) Hier suche ich Strategien, wie er in solchen Situationen sein momentanes Begehren runter fahren kann, um sich allein mit etwas anderem zu beschäftigen. Das ist sehr schwer, weil er ja gerade die soziale Interaktion sucht. Und ich habe hier auch noch keinen Weg gefunden. Zum anderen muss man m.E. stärker mit der Gruppe arbeiten, nicht mit ihm allein. Wie gehen die Kinder in der Gruppe miteinander um? Welche gemeinsamen Spiele werden gespielt? Wie werden schwächere, langsamere Kinder in die gemeinsame Aktivität mit einbezogen? Welche Rolle spielt Sprache in der Kommunikation der Kinder bzw. der Erzieherinnen zu den Kindern? Ich sagte ihr, dass ich davon überzeugt bin, dass Anatol sprechen lernt wenn er sich in der Gruppe angenommen und wohl fühlt, die anderen Kinder ihn ins Spiel mit einbeziehen und direkt mit ihm kommunizieren. Ich sagte ihr, ich vermute, dass er so toll bei ihr die ganzen Sprachübungen mit macht, weil sie so nett zu ihm ist und mit ihm wochenlang zu Beginn die „Beziehungsebene“ aufgebaut hat. Deshalb macht er bei ihr alles gut, deshalb wiederholt er die Worte, die sie spricht und wendet sie auch immer häufiger an. Ich führe das weniger auf die Sprachübungen bzw. die -therapie zurück als vielmehr auf die häufige positive soziale Interaktion zwischen ihr und ihm. Sicherlich ist eine Sprachtherapie in dieser Eins-zu-Eins-Situation auch wichtig und absolut sinnvoll. Trotzdem habe ich das Gefühl, dass die Interaktion in der Gemeinschaft für Anatol einen wichtigeren Lernimpuls bietet. Und, dass seine Form sich auszudrücken und anderen verständlich zu machen in alltäglichen Spielsituationen bzw. die Reaktionen der Kinder in seiner Gruppe eigentlich entscheidend für die Entwicklung seiner zukünftigen Kommunikationsstrategien ist.

Sie sieht das anders. Sie meint, dass die Sprachtherapie ihn dorthin geführt hat, wo er jetzt ist. Natürlich kann ich ihr da nicht widersprechen, denn man kann das ja nicht überprüfen. Sie meint auch, dass erst sein Wortschatz ausreichend sein müsse bevor sie mit ihm in die Gruppe gehen könnte. Sie sagte, was ich will sei nicht Sprachtherapie, sondern eher Pädagogik. Darin sei sie aber kein Expertin. Sprachtherapie in Gruppen lehne sie grundsätzlich ab. Das wäre in der Vergangenheit bei ihr nie gut gelaufen. Es sei zu laut und man hätte zu wenig Möglichkeiten, sich auf die sprachlichen Besonderheiten von Anatol zu konzentrieren.

Ich sagte ihr, dass ich mir auch keine „Gruppentherapie“ in dem Sinne vorstelle. Vielmehr wünsche ich mir, dass sie als Sprachtherapeutin Anatol im Kita-Alltag in seiner Gruppe öfter genau beobachtet, dass sie versucht, seine bisherigen Kommunikationsstrategien und die Reaktionen der anderen Kinder zu verstehen. Aus diesen Beobachtungen lassen sich dann eventuell „Kommunikationshilfen“ sowohl für ihn als auch für andere Kinder in der Gruppe bzw. für die Erzieherinnen ableiten. Ich meine, dass es weder nur Pädagogik oder nur Sprachtherapie ist, sondern eine Mischung aus beidem. Und schließlich wurde ich immer verunsicherter, denn ich habe ja auch nur abstrakte Vorstellungen davon und nahm an, sie als Sprachtherapeutin würde eine solche Herangehensweise selbstverständlich kennen. Vielleicht sehe ich das ja auch alles völlig falsch, bin übereifrig oder zu aufgeregt. Ich weiß es nicht. Ich fühlte mich einfach sehr hilflos.

Nach diesem Gespräch ging ich total erschöpft und verheult nach Hause. Ich ahnte irgendwie, dass diese Art der Diskussion unser Leben von nun an begleiten wird.

Ein Gedanke zu „Sprachentwicklung und meine große Verunsicherung“

  1. Liebe Jenny,

    ich kann dich und deine verzweiflung so gut verstehen. Auch, dass du dir wünscht, Dass Anatol viel besser einbezogen wird in die Gruppe und all das. Aber – so meine Erfahrung – schließen sich Sprachtherapie und pädagogische ‚Interventionen‘ nicht aus. Eine gute Sprachtherapie, 2 x die Woche, ist eine ganz wichtige Basis, um kommunikativ ‚mithalten‘ zu können. Denn viele Probleme sind schlicht und einfach ‚Kommunikationsprobleme‘. Umso besser, wenn Eure Sprachtherapeutin da so gut ist und auch bereit, intensiv mit Anatol an der Sprache zu arbeiten.

    Vielleicht kann sie ja zusätzlich einmal, oder aber auch ein anderer Therapeut, vielleicht Heilpädagoge oder Ergotherapeut, in Euren Kindergarten gehen und da beobachten und sowohl den Erziehern als auch Euch Hinweise geben, wie Anatol eine bessere Beziehung zu den anderen Kindern aufbauen kann und seine Grenzen deutlicher zeigen kann. Und auch die der anderen besser respektiert. Oder sich besser angenommen fühlt….

    Lass dich nicht entmutigen. Und auch andere Kinder, mit Normalsyndrom, haben Phasen, in denen sie in der Gruppe nicht zurecht kommen, aggressiv werden, sich einsam fühlen. Dann auf einmal, taucht ein Kind auf, das der beste Freund wird. Und alle Sorgen sind vergessen…

    Ich wünsche Dir ganz viel Liebe, Kraft und Geduld.
    Amelie

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert