Am 28. September 2016 war Udo Sierck zu Gast im Elternverein Leben mit Behinderung Hamburg. Udo Sierck hat mich immer beeindruckt. Von den vielen Büchern zum Thema Inklusion, Behinderung und Entwicklung, die ich nach der Geburt unseres Sohnes mit Trisomie 21 gelesen hatte, hätte ich mir unzählige sparen können, wenn ich früher auf „Sie nennen es Fürsorge“, „Die Wohltäter-Mafia“, „Budenzauber Inklusion“ oder „Dilemma Dankbarkeit“ von Udo Sierck gestoßen wäre.
In seinem Einstiegsreferat sprach Sierck über das Dilemma Dankbarkeit für viele Behinderte, mit dem er sich in seinem jüngsten Buch ausführlich auseinandergesetzt hatte. Er meint hiermit die antrainierte Rolle von vielen behinderten Menschen, „brav, dankbar und ein bisschen doof“ zu sein/bleiben. Der Zeitgeist lautet: Sei zufrieden mit dem, was du hast. Dankbarkeit kann laut Sierck dazu führen, dass jemand seine tatsächlichen Bedürfnisse zurückstellt, um seinem Gönner zu gefallen. Die Erziehung zur Dankbarkeit führt zu einem Verhalten der Loyalität gegenüber der Autorität, das jede Ungerechtigkeit und jeden Übergriff hinnimmt. Im Verhältnis zwischen Helfenden und Hilfsbedürftigen birgt das eine noch immer zu wenig beachtete Brisanz. Und dieses Dilemma beginnt in der Beziehung zu den Eltern, führte Sierck diesen Aspekt aus. Wenn einem Behinderten z.B. von der Mutter oder von Geschwistern immer wieder verdeutlicht wird, dass diese sich „aufopfern“ für das Wohl des behinderten Angehörigen oder seinetwegen „zurückstecken müssen“, kann man lebenslang eine bremsende Demut entwickeln, nicht nur gegenüber den Angehörigen, sondern gegenüber dem gesamten Lebensumfeld. Sierck ist davon überzeugt, dass dieser Gedanke in Deutschland besonders stark ausgeprägt ist: Wer nimmt oder bekommt, muss auch geben. Und wenn behinderte Personen nichts geben können, sollen sie wenigstens mit Dankbarkeit aufwarten. Diese Entwicklung wird verstärkt durch die wachsenden sozialen und beruflichen Anforderungen. Viele Menschen suchen nach Ratgebern, um diesen Ängsten zu begegnen. Die Suche nach dem Selbst beginnt, als ein Mittel gilt die Orientierung zur Dankbarkeit. Die Versuche zur Optimierung des Ichs rücken in den Mittelpunkt, die Lebensverhältnisse bleiben außen vor, es wird nur eine egozentrierte Perspektive propagiert. „Bei dieser Tendenz zur Individualisierung bleibt letztlich die soziale Verantwortung auf der Strecke“. Mit diesem realen und pessimistisch-traurigen Gedanken endet Sierck seine Ausführungen.
Eine rege Elterndiskussion folgte. Der Tenor war der immer wiederkehrende Konflikt der Eltern, an welchen Stellen sie in die Selbstbestimmung ihrer oft verhaltensauffälligen Kinder eingreifen dürfen, können oder sogar müssen. Um das Kind vor den Aggressionen und der Ablehnung der Gesellschaft zu bewahren, versuchen viele Eltern, das Kind so weit es geht zu normalisieren. Viele Eltern sind auch davon erschöpft, immer wieder aufzufallen.
Udo Sierck reagiert mit dem Hinweis, dass man in die Natur des Menschen oft nicht eingreifen kann. Viele Verhaltensauffälligkeiten sind für behinderte Menschen selbstregulierend und wichtig. Zwingt man sie, diese abzustellen, geraten sie häufig in extremen inneren Stress, der wiederum zu anderen Auffälligkeiten führt. Die Energie, die viele Eltern in die Normalisierung bzw. Therapie des Kindes stecken, sollten sie lieber in die Aufklärung des Umfelds stecken, dass dieses Verhalten zum Wesen des Kindes dazu gehört, es keinesfalls böswillig ist und als Ausdruck menschlicher Vielfalt gewertschätzt werden sollte. Der Kommentar im Publikum, dass viele Eltern mit der ständigen Aufklärung des Umfelds überfordert sind, ließ den Wunsch aufkommen, hierin von Elternvereinen zukünftig mehr gestärkt zu werden.
„Aber ich habe ständig Angst, dass mein Kind woanders nicht gut aufgehoben ist und eben nicht so gewertschätzt wird wie von mir und unserer Familie.“, wurde angemerkt.
Sierck antwortet entschlossen, dass ein Kind Niederlagen und Misserfolge erleben muss, um selbstständig aktiv zu werden und nach Lösungen zu suchen. Solche negativen Erlebnisse seien ein ganz entscheidender Faktor für die Entwicklung von Autonomie und Selbstbestimmung. Wenn wir dies für unsere Kinder wollen, dann dürfen wir sie nicht davor bewahren.
„Aber mein Kind ist nicht so fit wie Sie Herr Sierck. Mein Kind ist schwer mehrfach behindert und hat eine geistige Behinderung.“, kam aus dem Publikum.
Es ginge nicht um eine Diskussion um Grenzen oder einer stufenartigen Einteilung von fit-Sein, so Sierck sinngemäß. Es geht immer um einen einzelnen Menschen und wie diesem individuellen Menschen größtmögliche Autonomie ermöglicht werden kann. Hier muss man manchmal sehr kreativ werden, um die Bedürfnisse eines Menschen herauszubekommen und zu verstehen.
Dann ging der Abend zu ende und beschäftigte mich noch lange. Uns Eltern scheint es enorm schwer zu fallen, uns von unserem behinderten Kind zu lösen, es in Ruhe zu lassen, es von Erwartungen und Druck zu befreien und in seinem Anders-Sein zu lieben wie es ist. Immer wieder war die Rede von „erzieherischen Bemühungen“, „alles für die positive Entwicklung des Kindes zu tun“ oder es „umfassend zu fördern“. Und ich hatte das Gefühl, dass wir Eltern im Publikum doch nicht verstanden hatten, worum es Sierck ging: eben darum, nicht auf das Kind einzuwirken und es nicht zu formen oder normalisieren zu wollen, sondern die Fäden durch zu trennen, sich zurück zu nehmen, los zu lassen, zuzulassen und auszuhalten. Das Kind sein lassen wie es ist und seinen Weg gehen zu lassen. Kein Wunder, dass die von Sierck mitbegründete Krüppelbewegung in den 80er Jahren u.a. die Eltern als ihre Feinde deklariert hatte.
Hallo Jenny,
Ich bin über Twitter bei dir gelandet.
Mich würde mal gerne deine Meinung interessieren zu einem Erlebnis, das ich als nicht behinterter hatte. Vor einiger Zeit war ich auf einem Forentreffen. Es waren viele nette und Hilfsbereite und offene Menschen dort. Zwei der Teilnehmer waren blind. Und einer der Blinden hatte (fand ich) ein ungewöhnliches verhalten.
Er sagt ständig sowas wie „Jemand muss mir mein Essen kleinschneiden“ oder „Jemand muss mir beim Zeltaufbau helfen“. Nicht bittend an Einzelne gewand, sondern fordern in den Raum gerufen.
Nun schwanke ich da zwischen „das ist richtig so“, weil man nicht erwarten kann, dass jeder Behinderte immer um alles bitten und betteln sollen muss. Andererseits ist es, finde ich (auch unter nicht behinderten) richtig, um Hilfe beim Zeltaufbau oder sonstwas zu bitten. Das Erlebte liegt schon 2 Jahre zurück, aber ich denke seitdem über diesen schmalen Grat zwischen Freundlichkeit und Dankbarkeit unter nichtbehinderten und Freundlichkeit und Dankbarkeit zwischen Behinderten und nicht Behinderten nach. Dabei meine ich speziell die Entwürdigung Behinderter durch ständiges fragen müssen und die erwartete Dankbarkeit nicht Behintderter. Wenn ich das richtig verstehe sieht Udo Sierck das Dilemma auch so.
Es bringt einfach mehr spaß zu helfen, wenn man gefragt wird, und damit meine ich jetzt erstmal allgemein die Hilfe von nicht Behinderten untereinander. Wenn ich aber diesen normalen Umgang miteinander von einem Behinderten einfordere wird es für mich etwas kompliziert, weil ich den Zwiespalt der Situation in der (in meinem Fall) der Blinde ist, _nicht_ mit den Umgangsregeln unter nicht Behinderten, auflösen kann.
Ich weiß gerade garnicht ob sich das auf geistig Behinderte Übertragen lässt, weil nach meiner (kleinen) Erfahrung diese „Behinderten“ in vielen Dingen eine gesündere Einstellung zu der Wichigkeit einiger Dinge haben, als viele andere nicht Behinderte in unserer Gesellschaft. Aber das ist ein anderes Thema ?
Ich überlege gerade ob nicht allein die Begriffe „Behindert“ und „nicht Behindert“ Teil des Problems sind. Spräche man z. B. von Abhängigkeiten sähe die Sache evtl. schon anders aus, denn wer ist denn nicht abhängig von anderen Menschen? Das würde vielleicht dazu führen, dass viele Normale sich mal Gedanke machen würden wo ihre eigenen Abhängigkeiten von anderen liegen. Und dann wären Dankbarkeit und Demut besser verteilt. Naja, fiel mir gerade nur ein, ist vielleicht nicht zuende gedacht ?
Ohje. hab mir den Text gerade nochmal durchgelesen. Wirkt voll verkopft und ich weiß garnicht ob man versteht was ich meine ?
Hallo Boris,
danke, dass Dich meine Meinung interessiert. Da Behinderte und Nichtbehinderte jeweils keine homogene Gruppe sind und Abhängigkeit und Unabhängigkeit auch so individuell wahrgenommen und bewertet werden, kann man meiner Meinung nach immer nur mit einem Menschen individuell ins Gespräch kommen und aushandeln, wie man eine Beziehung miteinander so gestaltet, dass beide sich wohlfühlen, ohne, dass einer sich abhängig fühlt oder genötigt.
Zu zwei Punkten wollte ich noch reagieren: Du schreibst, dass der Blinde in der von Dir geschilderten Situation unangenehm fordernd war. Udo Sierck meint, dass man von Behinderten als hilfebedürftige Leistungsempfänger immer eine gewisse Demut und Zurückhaltung erwartet und solche Heftigkeit und Lautstärke deshalb irritiert. Das sehe ich ähnlich wie Sierck. Hinzu kommt, dass Behinderte (z.B. Blinde) oft ihr Leben lang für selbstverständliche Dinge (z.B. Teilhabe oder bestimmte Hilfsmittel) kämpfen müssen und z.B. unendlich viele, nervige, Zeit raubende Anträge stellen müssen. Sicherlich sind viele einfach auch wütend. Und die Wut kommt dann manchmal bei solchen Treffen wie das, was Du beschreibst, heraus.
Und dann noch zum Schluss dazu: es gibt natürlich auch Behinderte, die Arschlöcher sind.
Der zweite Punkt: Du schreibst, dass geistig Behinderte oft eine gesündere Einstellung zur Wichtigkeit der Dinge haben. Hm. Das würde ich so nicht sagen. Geistig und schwer mehrfach Behinderte sind m.E. die am meisten diskriminierte Behindertengruppe. Sie sind sehr sehr stark abhängig von wohlwollenden Mitmenschen. Sie übernehmen häufig Einstellungen zu Wichtigkeiten, weil sie sie einfach wiederholen oder, weil sie gefallen wollen/müssen.