Eine der häufigsten Empfehlungen von sogenannten Professionellen nach der Geburt unseres Kindes mit Behinderung war, dass ich als Mutter um das gewünschte gesunde Kind trauern sollte, damit ich das geborene Kind mit Behinderung annehmen könne.
Das schien für mich nach der Geburt aber völlig unmöglich, denn erstens war ich stolz und euphorisch über meine eigene „Leistung“ eine weitere Schwangerschaft durchlebt und mit eigenen Kräften ein weiteres Kind geboren zu haben, zweitens kam es mir wie Verrat an meinem gerade geborenen Kind vor, jetzt zu trauern weil es nicht perfekt geboren ist und drittens war mir ein Leben mit einem behinderten Kind aus Mangel an vorherigeren Kontakten mit behinderten Menschen einfach so unbekannt, dass ich mir nichts Schlimmes, Schwieriges oder überhaupt irgendeine mögliche Zukunft vorstellen konnte. Ich stolperte sowieso mit einem Urvertrauen in die Schwangerschaften rein ohne Pränataldiagnostik oder anderem Pipapo, genauso stolperte ich dann weiter als Mutter in jeden Tag hinein mit den beiden Kindern, die ich nun hatte.
Eine weitere häufige Empfehlung der Professionellen war: achten Sie besonders auf das Geschwisterkind. Das sogenannte Schattenkind. UND WIE ICH DARAUF ACHTETE. Jede mögliche freie Minute. (Die freien Minuten gab es nur recht wenig.)
Seitdem hatte und habe ich aber doch sehr regelmäßig Momente unendlicher Trauer. Allerdings nicht um ein vermeintlich gesundes Kind. Sondern ich trauere immer dann, wenn mir meine eigenen Grenzen, meine Angewiesenheit, meine eigene Verwundbarkeit und Endlichkeit bewusst werden und was genau das für mich, meine Familie und meine beiden Kinder bedeutet(e). Gerade die Begrenztheit der eigenen Kraft und Ausdauer und die Gewissheit der Abhängigkeit von anderen Menschen, wollte ich lange Zeit nicht wahrhaben. Vorher war ich Superwoman. Ich hatte Superkräfte und war unsterblich. Manchmal trauere ich um die Stärke und die wahnsinnige Zuversicht, die ich als Jugendliche spürte und die ich, seit ich Mutter bin, nicht mehr habe. Jetzt weiß ich, ich kann meine Kinder nicht immer selbst halten und beschützen.
Natürlich frage ich mich manchmal wie alles gekommen wäre, wenn unser zweites Kind nicht mit einer Behinderung geboren worden wäre. Hätte ich dann nochimmer diese Superkräfte? Hätte ich dann eine ganze Handballmannschaft geboren, wie ich bis dahin immer wollte?
Laut Statistik trennen sich 80 % der Eltern eines behinderten Kindes. Bei Eltern von nichtbehinderten Kindern sind es wohl „nur“ 50%. Es besteht also eine höhere Wahrscheinlichkeit, dass wir Eltern uns nicht getrennt hätten. Andere Statistiken zeigen: Geschwister von Kindern mit chronischen Erkrankungen oder Behinderungen haben ein erhöhtes Risiko für Entwicklungsschwierigkeiten. Es besteht also auch eine deutlich höhere Wahrscheinlichkeit, dass unser erstes Kind eine ausgeglichenere Familie, Kindheit und Geschwisterbeziehung erlebt hätte. Weiterhin besteht eine höhere Wahrscheinlichkeit, dass wir Eltern heute, 12 Jahre später, beide beruflich erfolgreicher und finanziell unabhängiger wären. Und natürlich, dass wir jeder viel mehr Zeit hätten.
Mit der Traumfamilie in dem Traumleben, welches wir ohne behindertes Kind wahrscheinlich heute führen würden, würden wir in diesem Moment vielleicht in einem unserer Traumurlaube gemeinsam am Strand spazieren gehen, fröhlich unseren Familien-Lieblingssong singen, eine Flasche vom besten Wein genießen, uns gute Witze erzählen und ausgelassen miteinander lachen. Wir würden morgen mit der ganzen Familie entspannt durch irgendeine Altstadt schlendern, dann eine uralte Bibliothek besuchen bevor wir nach einem gemeinsamen leckeren Abendessen beim besten Griechen ein Konzert der wieder auferstandenen Beatles besuchen würden, auf dem wir alle, einschließlich unseres Familienhundes, die ganze Nacht durchtanzen würden.
Hätte ich nicht eine schwere Kindheit gehabt,
hätte ich nicht eine Frau geliebt,
wäre ich nicht erkrankt,
wäre ich nicht so oft verletzt und enttäuscht worden,
vielleicht wäre ich jetzt auch Mutter zweier Kinder.
Ich bin es nicht.
Was bleibt ist zu hoffen, zu glauben, zu lieben, immer wieder aufzustehen und dankbar zu sein für das was da ist.